Spektrum_HS_Esslingen - page 67

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spektrum 46/2018
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INTERN
Wöhler, eines Pioniers der organischen Chemie. Ihm war lange zu-
vor um 1828 als Erstem die Herstellung von Harnstoff aus anorga-
nischen Ausgangsstoffen gelungen. Dies war der Nachweis, dass
solche als organisch bezeichneten Substanzen synthetisiert werden
konnten. Sie waren vorher nur von lebenden Tieren bekannt.
Wieder zuhause in Basel bekam unser Student allerdings Typhus.
Überhaupt machten ihm Gesundheitsprobleme häufig zu schaf-
fen. Erst im WS 1866/67 konnte er das Studium wieder aufneh-
men und schloss es im Frühjahr 1868 mit einer hervorragenden
Doktorprüfung ab.
Mit dem absehbaren Ende der medizinischen Basisausbildung
hatte sich unserem Studenten die Frage gestellt, in welchem Be-
reich er nun wirklich arbeiten sollte. Im Grunde war er ein For-
scher, der vor allem wissenschaftlich tätig sein wollte. Sein Vater
hatte im Prinzip nichts dagegen, legte dem Sohn aber nahe, sich
zur Sicherheit zusätzlich noch auf ein praktisches Arbeitsfeld als
Mediziner zu spezialisieren – heute würde man von einer Weiter-
bildung zum Facharzt sprechen. Und man hatte sich darauf ver-
ständigt, dass unser frisch gebackener Doktor der Medizin seine
Kenntnisse in Richtung Ohrenheilkunde vertiefen sollte. Ob der
Hintergrund dafür die eigene Schwerhörigkeit war, darüber kann
nur spekuliert werden. Sicher ist jedoch, dass seine Begeisterung
für die Otologie recht schnell nachließ, weil er einfach lieber for-
schen wollte. Und auch sein Onkel, der Anatom an der Universi-
tät Basel, hat ihn nach eigenen Worten darin bestärkt. Er erklärte
ihm, dass für die Weiterentwicklung der Histologie ein grundle-
gendes Verständnis der chemischen Vorgänge in der Zelle wich-
tig sei. Der Neffe ließ sich gern davon überzeugen.
Mit dem klaren Ziel, in diesem Bereich eigene Forschungen auf-
nehmen zu wollen, zog er daher Ostern 1868 von Basel nach Tü-
bingen.
Das Ganze hatte er sich gut überlegt. An der Universität Tübin-
gen gab es seit 1818 eines der weltweit ersten Labore für physio-
logische Chemie. Es befand sich in der Küche von Schloss Ho-
hentübingen. Mit einem heutigen Labor
für Biochemie hatte es zwar nur entfern-
te Ähnlichkeit. Dennoch wurde mit den
dort vorhandenen, aus moderner Sicht
natürlich vorsintflutlichen Mitteln, Grund-
lagenforschung betrieben und wichtige
biochemische Erkenntnisse gewonnen.
So entdeckte dort 1866 Felix Hoppe-Sey-
ler, dass der rote Blutfarbstoff Sauerstoff
sowohl aufnehmen, als auch wieder ab-
geben kann und nannte ihn Hämoglobin.
Unser angehender Wissenschaftler wollte gerne in diesem La-
bor arbeiten. Aber erst bereitete er sich gründlich darauf vor und
verbrachte das ganze Sommersemester im Labor für allgemeine
Chemie bei Adolph Strecker, um sich mit der organisch-chemi-
schen Labortechnik vertraut zu machen. Danach nahm er im
Herbst 1868 die Tätigkeit bei Hoppe-Seyler auf.
Sein Ziel war es, die chemischen Bestandteile von Zellen unter-
suchen. Dies wollte er anhand möglichst einfach aufgebauter
Zellen tun. Die seiner Ansicht nach
„einfachsten und selbständigs-
ten Formen tierischer Zellen“
waren Lymphozyten. Diese waren
allerdings schwierig und nur in für weitere Analysen zu geringen
Mengen aus Lymphgewebe zu gewinnen.
Abb. 2: Tübingen von der Sennerei um 1875 [2]
Abb. 3: Labor in der Schlossküche um 1879 [3]
Prof. Dr. Hanno Käß
lehrt an der Hoch-
schule Esslingen
Physik und verwand-
te Gebiete in der
Fakultät Grundlagen
und ist Prodekan.
Seine Forschungsin-
teressen sind Analy-
tik und Spektrosko-
pie (bio)chemischer
Systeme.
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