Studium unter Corona-Bedingungen: Qualitative Studie bestätigt Online-Müdigkeit und zeigt Perspektiven auf

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Gerade haben Ministerpräsident Kretschmann und Wissenschaftsministerin Bauer im Gespräch mit Studierenden über die Lehren aus dem Studium unter Pandemiebedingungen diskutiert und darüber gesprochen, worauf die Politik besonders Acht geben muss. Und sie haben eingeräumt, dass die Studierenden, die sich mittlerweile im dritten Online-Semester befinden, nicht im Fokus standen. Zwischen den Älteren, die besonders gefährdet sind, und den Jüngeren, die eine besondere Unterstützung benötigen, sind die jungen Erwachsenen in der Diskussion der vergangenen knapp eineinhalb Jahren schlicht zu kurz gekommen.

Dieses Wahrnehmungsdefizit lässt sich durch die Studie eines interdisziplinär besetzten Teams von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Hochschule Biberach (HBC) empirisch bestätigen. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen die persönlichen Erfahrungen von Lernenden, Lehrenden und Leitenden. Nun liegen die Ergebnisse vor – und zeigen Defizite auf, aber auch konkrete Potenziale, die geschöpft werden können.

Auch die Hochschule Esslingen hat sich beteiligt

„Das Bauchgefühl, vergessen worden zu sein, das viele Studierende unter anderem im Dialog mit der Landespolitik formuliert haben, spiegeln sich in unseren qualitativen Interviews wider“, sagt Dr. Sonja Sälzle, Koordinatorin der Untersuchung, an der sich auch die Hochschule Esslingen beteiligt hat. Sälzle ist Erwachsenenpädagogin und hat mit weiteren Forschenden des Biberacher Instituts für Bildungstransfer die Studie „Entwicklungspfade für Hochschule und Lehre nach der Corona-Pandemie“ erarbeitet, die die HBC heute (1. Juni 2021) in Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle der Studienkommission für Hochschuldidaktik an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg (GHD) im Tectum Verlag veröffentlicht wird.

„Unser Anspruch war es, ein ganzheitliches Bild der Corona-Semester zu rekonstruieren“, sagt Sonja Sälzle. Dafür biete die Methode der qualitativen Interviews – persönlich geführte Gespräche anstelle von Online-Fragebögen – die Chance, „ein vertieftes Verständnis von Alltagserfahrungen zu gewinnen und die unterschiedlichen Perspektiven von Studierenden, Lehrenden sowie den Personen, die in der Hochschulleitung nach den passenden Entscheidungen rangen, zu berücksichtigen“, erläutert die Wissenschaftlerin. „Auf der Grundlage einer solchen offeneren Form der Datenerhebung können Hochschulen eine tatsächliche Pfadentwicklung skizzieren – für die eigene Institution, aber auch für den Typus Hochschule für Angewandte Wissenschaften insgesamt, der ja wie keine andere Hochschule für Präsenzlehre steht“.

8000 Minuten Schilderungen von Alltag und Wünschen

86 Teilnehmende in 19 leitfadengestützte Einzelinterviews sowie 16 Gruppeninterviews mit fächer- und hochschulübergreifenden Fokusgruppen hat das Projektteam in der Zeit von Januar bis Mitte März 2021 geführt. Studierende, insbesondere auch Erst- und Zweitsemester kamen in den Gruppengesprächen zu Wort, ebenso Professorinnen und Professoren sowie Lehrbeauftragte.

Mitglieder der Hochschulleitungen aus allen teilnehmenden HAWs sowie Lehrende mit Good-Practice-Beispielen wurden in Einzelgesprächen befragt. Über 8000 Minuten Schilderungen von Alltagserfahrungen, Herausforderungen und Wünschen sind so entstanden. „Wir haben belastbare Informationen über die Gesamtsituation erhalten und können daraus Anforderungen, aber auch Möglichkeiten für die Zukunft ableiten“, so Sälzle.

So sahen sich Studierende oftmals unerwartet mit der Gestaltungsnotwendigkeit der räumlichen Wohn-, Arbeits- und Lernsituation konfrontiert, mussten eine neue Struktur für ihren Alltag finden und mitunter Herausforderungen hinsichtlich ihrer finanziellen Situation bewältigen. Sälzle macht dies an einem Zitat aus den Daten deutlich: „Ich arbeite sehr viel nachts (...), aber ich möchte nicht, dass das mein neues Dauerleben ist“. Nach zwei digitalen Semestern schilderten die Befragten laut Sälzle eine digitale Erschöpfung, verbunden mit gesundheitlichen Problemen.

Auch Mitglieder der Hochschulleitungen reagierten emotional auf die Ausnahmesituation, die gekennzeichnet war durch Handeln unter Unsicherheit, wie ein Zitat belegt: „Man schläft ja schon unruhig in diesen Zeiten, weil man natürlich immer mit sich ringt: Sind die Entscheidungen, die man trifft, die richtigen?“

Wünsche für die Zeit nach der Corona-Distanz: Präsenz-Hochschule

Und was wünschen sich die Betroffenen für die Zeit nach der Corona-Distanz? Auf diese Frage gibt die Studie eine eindeutige Antwort: „Die größte Sehnsucht ist die nach dem Zurück zur Präsenz-Hochschule“, berichtet die Soziologin Linda Vogt, die dem Forschenden-Team angehört. Ein Zurückfallen in die alte Normalität jedoch sei damit nicht gemeint. So gehen beispielsweise Studierende davon aus, dass innovative Lehr- und Lernmodelle mehr denn je ein wichtiges Entscheidungskriterium bei der Studienwahl darstellen und Hybrid-Modelle – also eine Mischung aus digitalen Formaten und solchen vor Ort – zukunftsweisend sein werden.

Sonja Sälzle hebt insbesondere den Mix an Formaten hervor, der sich bewährt, sowie die Interaktion, die sich gerade in der digitalen Lehre als besonders wichtig herausgestellt hat. In der Zukunft sieht die Wissenschaftlerin auf der Grundlage der Daten zum Beispiel die Chance, die reine Wissensvermittlung aus der Präsenz auszulagern. „Diese Einheiten können digital übersetzt werden. So kann sie jeder Studierende eigenständig absolvieren, falls notwendig mehrfach. Und die Lehrenden konzentrieren sich auf die Inhalte, die schwerer zu vermitteln sind und den direkten Austausch und Lerntransfer benötigen.“

Welche möglichen Handlungsfelder sehen die Wissenschaftlerinnen für die Hochschulleitungen? Deren Aufgabe liege insbesondere darin, die in der Ausnahmesituation entstandenen Räume tatsächlich zu nutzen und sich strategisch zu positionieren. Dafür gebe es nicht „den einen Pfad post Corona“, sondern der passende Weg sei abhängig von der jeweiligen Standortbestimmung der jeweiligen Hochschule in der Hochschullandschaft.

Für eine Digitalisierungsstrategie komme es darauf an, Aspekte einer bewährten Hochschullehre intelligent mit der einer digitalen Erweiterung zu kombinieren, erläutert Sonja Sälzle, etwa im Bereich Arbeits- und Lernwelten. So können Hochschulen ein digitales Miteinander definieren und gleichzeitig den physischen Raum vor Ort für soziale Begegnung und Kommunikation wieder in den Mittelpunkt stellen. Und vor allem: „Die Dualität von Online- und Präsenzlehre überwinden, damit das Beste aus beiden Welten zum Einsatz kommt“, empfehlen die Autorinnen. 

Darüber hinaus müssen Hochschulen ihren Gestaltungsraum nach innen ausfüllen und mögliche Hindernisse identifizieren. Zudem benötigen sie Unterstützer, die auf verschiedenen Ebenen agieren und verschiedene Rollen übernehmen, „um Barrieren des Nicht-Wissens, des Nicht-Wollens oder des Nicht-Dürfens zu überwinden“.

Chancen der Krise: Potenziale und Innovationen erkennen

Und schließlich prognostizieren die Wissenschaftlerinnen den Zusammenhang von Digitalisierung und Wettbewerb: Deshalb sei es gerade für HAWs notwendig, die Potenziale der in der Krise entstandenen Innovationen zu schöpfen. Als Handlungsimpuls empfehlen die Autorinnen und Autoren, Hochschule als Ort von Gemeinschaft und Persönlichkeitsbildung zu verstehen und gleichzeitig Experimentier-felder zu eröffnen, in denen neue Formen von Partizipation und Sozialisation entstehen, Rollenbilder hinterfragt und Heterogenität ermöglicht werden. So kann jede Hochschule für sich sowie alle HAWs gemeinsam ein Zielbild entwickeln und Schritte zur Umsetzung der Strategie einleiten.

Teilnehmende Hochschulen:

  • Hochschule Aalen – Technik und Wirtschaft
  • Hochschule Albstadt-Sigmaringen
  • Hochschule Biberach
  • Hochschule Esslingen
  • Evangelische Hochschule Freiburg
  • Hochschule Heilbronn – Technik • Wirtschaft • Informatik
  • Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft
  • Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen
  • Hochschule Reutlingen
  • Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd
  • Hochschule der Medien Stuttgart

Institut für Bildungstransfer

Das Institut für Bildungstransfer ist eine zentrale Einrichtung der Hochschule Biberach. Es arbeitet fakultätsübergreifend und -verbindend und unterstützt die Lehre in Fragen der Didaktik oder des Qualitätsmanagements.Die Studie „Entwicklungspfade für Hochschule und Lehre nach der Corona-Pandemie“wird in Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle der Studienkommission für Hochschuldidaktik (GHD) am 1. Juni 2021 als open-access-Publikation im Tectum Verlag veröffentlicht. Die Autorinnen und Autoren sind: Sonja Sälzle, Linda Vogt, Jennifer Blank, André Bleicher, Ingrid Scholz, Nadja Karossa, Renate Stratmann, Thomas D’Souza. 

GHD: Die Geschäftsstelle der Studienkommission für Hochschuldidaktik an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg (GHD) ist eine landesweite Einrichtung mit Sitz an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft. Sie hat die Aufgabe, hochschuldidaktische Fortbildungsangebote für die Professorinnen und Professoren sowie für die Lehrbeauftragten an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg zu entwickeln und zu organisieren, hochschuldidaktische Forschungsprojekte anzuregen und zu betreuen sowie den Erfahrungsaustausch über Fragen der Lehre zu fördern.

Fachliche Ansprechpartnerin und Projektkoordination:

Dr. Sonja Sälzle, Institut für Bildungstransfer der Hochschule Biberach

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